Verfassungsverständnis stellt klassische Ehe infrage
Die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf, derzeitige Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht, hat mit einer juristischen Einschätzung erneut für Aufsehen gesorgt. In der vierten Auflage (2023) des Grundgesetz-Kommentars nach Horst Dreier, dessen Mitherausgeberin sie ist, bezeichnet sie die traditionelle Definition der Ehe als möglicherweise zu eng gefasst. Dort heißt es, die Ehe sei eine „auf Dauer angelegte Beistands- und Verantwortungsgemeinschaft von mindestens zwei Personen“.
SPD-Kandidatin Brosius-Gersdorfs Sicht auf Vielehe entfacht neue Debatte
Dabei lehnt sie eine Beschränkung auf zwei Partner ausdrücklich ab: „Eine Begrenzung des Verfassungsbegriffs der Ehe auf zwei Personen ist […] nicht geboten“, schreibt sie. Auch polygame Lebensgemeinschaften könnten den Anforderungen des Artikel 6 Grundgesetz genügen, sofern die darin enthaltenen Prinzipien von Beistand und Gleichberechtigung gewahrt blieben.
Kritik an liberaler Auslegung des Grundgesetzes
Diese Sichtweise hat eine Debatte über die gesellschaftlichen und rechtlichen Folgen solcher Verfassungsinterpretationen entfacht. Besonders deutlich äußerte sich der Staatsrechtler Ulrich Vosgerau, der auf eine konkrete Praxisrelevanz in der Migrationspolitik hinwies. Ihm zufolge ziele Brosius-Gersdorfs Argumentation letztlich auf die Anerkennung islamischer Vielehen, die im Ausland rechtmäßig geschlossen wurden.
Vosgerau sagte: „Der Artikel 6 des Grundgesetzes lässt sich zwar so auslegen, dass darunter auch Vielehen fallen, wie sie in islamischen Rechtsordnungen verbreitet sind.“ Der deutsche Gesetzgeber sei demnach möglicherweise verpflichtet, diese anzuerkennen – selbst wenn er im Inland keine Vielehen zulassen dürfe.
Verfassungsverständnis im Spannungsfeld kultureller Normen
Die Haltung Brosius-Gersdorfs wirft Fragen nach der Auslegungstradition des Grundgesetzes auf. Kritiker warnen davor, dass durch eine solche Öffnung des Ehebegriffs eine rechtliche Privilegierung bestimmter migrantischer Gruppen entstehen könnte. Vosgerau spricht von einem „Polygamie-Privileg“, das inländische Lebensformen benachteilige.
Hinzu kommt, dass Brosius-Gersdorf in ihrem Kommentar mögliche Risiken wie strukturelle Ungleichgewichte innerhalb Vielehen zwar anspricht, dies aber lediglich am Rande behandelt. Vosgerau kritisiert: „Das Problem herauszuarbeiten würde bedeuten, die gesellschaftlichen Konsequenzen zentraler linker Transformationsprozesse wie Masseneinwanderung und Multikulturalismus zu beleuchten.“
Auch Minderjährigenehe nicht kategorisch abgelehnt
Für zusätzliche Kontroverse sorgt Brosius-Gersdorfs Auffassung zur Ehemündigkeit. Sie hält es für denkbar, dass auch Minderjährigenehen verfassungsgemäß sein könnten – jedenfalls im Einzelfall. In ihrer Kommentierung schreibt sie, eine Ehe sei nur dann unzulässig, wenn sie „mit Unfreiwilligkeit oder Ungleichberechtigung“ einhergehe oder bei sehr jungen Partnern der Ehezweck verfehlt werde.
Diese Haltung dürfte insbesondere im Hinblick auf frühere integrationspolitische Debatten über Kinderehen neue Brisanz erhalten – auch weil Brosius-Gersdorf für zentrale Grundsatzentscheidungen am höchsten deutschen Gericht vorgesehen war.